Elisabeth Eberle, Atelieraufenthalt Cité des Arts Paris, März bis Juni 2017

Das mir von visarte zürich für vier Monate in Paris zur Verfügung gestellte Atelier liegt an einer Nebenstrasse im Marais in der Cité des Arts, einem Atelierkomplex mit 300 Ateliers für alle Sparten der Kunst. Es liegt direkt an der Seine und besteht aus einem schönen 60er-Jahre-Hauptriegel und vielen anderen Gebäuden und Höfen, einer Art Aula und einem Garten.

Das Atelier ist im Originalzustand der 60ies belassen, samt Mobiliar und schwarzem Linoleumboden, wunderbar, neutral, gross und angenehm. Nur die laute Haustechnik (Ventilation, Heizung) ist gewöhnungsbedürftig, aber es gibt ja Ohrstöpsel! Es mit dem Nötigen ausgerüstet, Dusche, bescheidene Küche, zweites Bett gegen bescheidene Gebühr. Nichts zu viel und nichts zu wenig und das an perfekter Lage, Metrostation vor und hinter dem Haus, Restaurants, Lebensmittel, Markt und alles gleich um die Ecke. Zudem erhalten alle einen Ausweis, der zusammen mit dem internationalen Künstlerausweis von visarte Eintritt in die meisten Museen gewährt, ohne Anstehen. Grossartig!!

Pariser Besucher, die selber in einer winzigen Wohnung wohnen, wurden bei mir fast etwas ungehalten, was uns Künstlern da an bester Lage geboten wird. (Die Stadt Paris steht auf der Geldgeberliste. Die Länder, Organisationen oder Künstler zahlen aber die Mieten aber selber.) In Paris leben die Leute laut Statistik dichter als in New York. Da ist ein solches Atelier ein wunderbares Privileg!

Andere Künstlerateliers sind durch barocke Treppen oder mittelalterliche Gassen erschlossen. Meine Nachbarn kommen aus Ghana, der Slowakei, Korea, Ägypten und Lettland. Je nach Land oder Organisation dauern die Aufenthalte zwischen einem Monat und einem halben Jahr und sind mehr oder weniger gut finanziert. Einzelne können sich nicht einmal Pigmente zum Malen kaufen, andere scheinen ziemlich bemuttert von ihren Landesvertretungen.

Unter mir höre ich die Musik eines Tanzlokals, je nach Tag und Gruppe unterschiedliche Töne und Bässe. Musiker üben, aus den Fenstern tönt Operngesang. Ab 22 Uhr ist verordnete Nachtruhe, die hier erstaunlich gut eingehalten wird. Vis à vis der Gasse habe ich Einblick in andere Ateliers, ins Holocaust-Memorial, das eine Art Baulücke darstellt, und wenn ich den Kopf aus dem Fenster halte, sehe ich die Seine.

Deren Uferstrasse ist seit zwei Wochen nun ein Park (Parc de Seine), vollständig gesperrt für den Verkehr, neu bepflanzt, mit Cafés, Kinderspielplätzen, Picknicktischen und spontanem Tanz am Sonntag. Es ist nun möglich, von hier bis etwa zum Trocadéro zu Fuss zu gehen, ohne lästigen Verkehr! Ein Riesenpolitikum in der Stadt. Die Autofahrer sind empört, die Anwohner befürchten Mehrverkehr, die Flâneure strömen aber in Massen mit Rollschuhen und allen Arten motorisierter Räder unter den Füssen, mit Fahrrädern, Joggingschuhen und zu Fuss.

Das Kulturangebot ist riesig, die Leute sind draussen, wenn es wie fast üblich schönes Wetter ist. Die Warenhäuser sind gefüllt mit neonfarbener Mode, die Haute Couture zeigt ebensolche Ballkleider, die Schuhe sind extravagant. Von der schrillen Modewelt ist auf der Strasse aber wenig zu sehen, ausser bei gewissen Touristen. Die Parks sind wunderbar gehätschelt und bepflanzt, Oasen für geplagte Stadtbewohner, die Cafés an den Strassen überquellen.

Den grossen Kontrast dazu bilden die wahnsinnige Polizeipräsenz, die Militärs in Kampfformationen mit Maschinenpistolen im Anschlag, die Taschenkontrollen überall, die vielen zum Teil aggressiven Bettler, die Obdachlosen, auch ältere gepflegt aussehende Frauen, viele ältere französische Männer, die auch vor dem Atelierkomplex aufgereiht auf dem harten Steinboden übernachten.

Hinzu kommt die fäkale Ebene, angefangen beim Pinkelverhalten auf offener Strasse bis zu den omnipräsenten Hundehaufen. Die öffentlichen Toiletten sind offenbar nicht ausreichend und ab und zu ausser Betrieb. Das hat die Stadt bewogen, knallrote Blumenkisten zu testen, die neben dem Dekorativen auch als wartungsarme Pissoirs dienen können, um die vielen Pfützen auf den Strassen zu verringern.

Die soziale Lage irgendwie abzuschätzen, ist mir bisher noch nicht gelungen. Unser wunderbarer Quartierbäcker mit seinem altmodischen Lokal verteilt abends das Übriggebliebene vor dem Haus an die nächtlichen Zaungäste, die ein gutes Verhältnis zu unseren Wachen haben. Am Morgen räumen alle tiptop säuberlich ihre Matten weg, damit die Läden öffnen können. Einige Künstler haben sich aber über den Lärm nächtlicher Streitereien beschwert. Man gewöhnt sich aber an Dauersirenen, Strassenlärm, frühmorgendliche Kehrichtautos, nächtliche Putzkolonnen. Wenn irgendwo ein Alarm losgeht, fährt die Polizei hektisch mit Schnellbooten die Seine hoch und runter, sehr beeindruckend.

Unser Kunstquartier ist rund um die Uhr bewacht, nachts geschlossen und nur über das Hauptportal oder einen Code zu betreten, videoüberwacht.

Alles ist gut unterhalten, bewusst im Zustand der Zeit konserviert und neutral belassen, was ich ganz toll finde, weil ich wie ein leeres Blatt Papier vorfinde und nicht visuell beeinflusst bin. Wenn ich das Bedürfnis nach Input habe, gibt es dauernd die Möglichkeit, offene Ateliers und gratis experimentelle Veranstaltungen und fantastische Konzerte zu besuchen, von zeitgenössisch bis klassisch. Alle sind angehalten, sich aufs Programm setzen zu lassen in Form einer Veranstaltung oder eines «open studio». So ergeben sich auch viele internationale Kontakte zu interessanten Leuten, z.B. einer Ikonenspezialistin und Malerin aus Mazedonien, einem chinesischen Kunstprofessor, einer ägyptischen Preisträgerin, die einen Kunstpreis für ganz Afrika gewonnen hat, oder einer jungen Opernsängerin aus dem Aargau, einer jungen Schriftstellerin/Journalistin aus Brasilien und einer älteren aus Australien, die aber ursprünglich aus China kommt und eine ganz aussergewöhnliche Lebensgeschichte hat. Es wird viel diskutiert und ausgetauscht und es entsteht ein spontaner, sehr internationaler Yogakurs.

Es ist in dieser Fülle schwierig, eine Balance zwischen Kulturkonsum und eigener Arbeit zu finden!

Zur Wahl hin und nach den schrecklichen Schiessereien wird die Lage temporär etwas anders, keine drogensüchtigen oder alkoholisierten Gammler mehr in der U-Bahn, die ihre Lebensgeschichte erzählen und betteln, auch keine Musiker mehr, keine Rumänen, die quer übers Trottoir liegen, keine Striptease-Einlagen in der U-Bahn zwecks Budgetaufbesserung, Kontrollen in den U-Bahnen, Scharfschützen auf dem Dach vis à vis und gesperrte Strasse hinter dem Haus wegen des nebenan gelegenen Wahllokals und einer Grossveranstaltung des Holocaust-Memorials, an der nun seit 24 Stunden Namen von Deportierten während des Nazi-Régimes vorgelesen werden, auch nachts, eine unendliche Liste! Es kommen und gehen ständig Zuhörer, Angehörige, Betroffene, Kinder, Enkel, mit Rollatoren und Rollstühlen, Judenabzeichen und Kopfbedeckung, die sie aber meist dann beim Verlassen des Gebäudes verschwinden lassen.

Ich wage fast nicht mehr, das Fenster zu öffnen, um die Scharfschützen nicht durch eine unachtsame Bewegung zu irritieren. Als Krönung wird nun noch die Strasse abgeriegelt und plötzlich liegt eine Spannung in der Luft, Macron besucht die Gedenkstätte zwischen den Wahlgängen, direkt unter meinem Fenster.

Trotzdem tanzen die Leute an der Seine und das Leben nimmt seinen Lauf, der Wahlkampf scheint wegen der eingeschränkten, stark reglementierten Werbung sehr zivilisiert, abgesehen von den Reden. Die regulierten, staatlichen Plakate werden aber zum Teil arg zugerichtet, ausser dasjenige von Macron, das jeden Tag mit einer frischen Version überklebt wird.

Die Leute seien im Allgemeinen etwas verhaltener, weniger auf der Strasse und introvertierter als vor den Anschlägen vor zwei Jahren, sagen die Pariser.

Ungebremst scheint die Essenslust! Die Stadt überquillt von Delikatessen jeglicher Art, individuell, üppig, liebevoll. Von japanischen Köstlichkeiten, die wie Designobjekte aussehen, bis zu üppigst dekorierten Torten, interessant arrangierten Früchten und wie Kostbarkeiten ausgestellten Broten überquellen die Schaufenster! Unser Angebot scheint trostlos angesichts dieser Kreativität und Vielfalt.

Daneben betteln die vielen Obdachlosen.

In dieser Stimmung muss ich mein botanisches Projekt sehr schnell aufgeben, lasse mich von meinen Eindrücken, von der Stimmung in der Stadt treiben, begebe mich desorientiert auf die Suche nach ursprünglichsten Formen der Zivilisation, quasi unabhängig von der Herkunft, um sie in der virtuellen Realität meines Computers (VR-Brille) und der Grosszügigkeit meines Ateliers sehr frei in Zeichnungen umzusetzen, sehr produktiv, fast fieberhaft.

Die unzähligen Stadt- und Museumsbummel haben mich sehr inspiriert. Meine Füsse quittieren das mit einer dauernden, etwas schmerzenden Überbeanspruchung. Das grosse Thema der Saison ist afrikanische Kunst, dies in vielen Institutionen, auch in der Cité des Arts. Zudem bin ich fasziniert von einer Performance des Extremkünstlers Abraham Poincheval der im Palais de Tokyo in einem Plexiglaskubus über 20 Tage lang Eier ausbrütet. Ich habe unzählige Ateliers besucht, von der zeitgenössischen Ballettaufführung in der Opéra Garnier über eine fantastische zeitgenössische Afrika-Ausstellung in der merkwürdigen Architekturumgebung La Villette bis zum neuen Louis Vuitton-Palast, Picasso Primitif viele andere Ausstellungen und Museen angeschaut und Quartiere durchstreift, den überquellenden Familien-Vergnügungspark im Bois de Boulogne an einem Sonntag mit dem Fotoapparat erkundet, die Stoffläden und Tati-Billigmeile, die Rue Saint Honoré wie ein Museum durchwandert und endlose Spaziergänge auch in Aussenquartiere gemacht. Mein Stapel Zeichnungen wird so gross, dass ich nicht weiss, wie ich ihn im Zug nach Hause nehmen kann. Die Zeit wird so knapp, dass ich mir bereits überlege, wie ich eine Fortsetzung arrangieren könnte.

Ich bin visarte zürich sehr dankbar für diese wunderbare Möglichkeit, mein eigens Schaffen in so einer bereichernden und vielfältigen Umgebung neu auszutarieren, mich neu zu orientieren, zu vernetzen und unabhängig von meinem Alltag in Zürich frei arbeiten zu können, quasi meine künstlerischen Batterien neu zu laden!

Default heads is a series of graphite drawings by swiss artist Elisabeth Eberle.